Hätte der alte Mann gewusst, was an diesem Tag geschehen würde, wäre er vielleicht im Bett geblieben. Aber wie so oft in seinem Leben sollten auch heute Trauer und Freude dicht beieinanderliegen. Was er auch nicht wusste.
So aber stand er wie gewöhnlich gut gelaunt auf, schlurfte in die Küche und setzte einen Kessel Wasser für seinen Morgenkaffee auf.
Eigentlich hätte er das nicht gedurft, denn heute war Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, an dem ein gläubiger Jude weder aß noch trank. Aber seinen Glauben hatte er schon lange verloren.
Es war der 9. Oktober 2019. Die Journalistin Leonie Brahms, eine toughe, erfolgreiche Frau in der zweiten Zwanzigerhälfte, saß in einem stylischen Bistro im Retro-Look in Bernburg an der Saale. Sie recherchierte für einen Essay über den Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Im Moment war sie allerdings damit beschäftigt, an einer frischen Artischocke zu zuzeln. Sie liebte dieses mediterrane Aroma. Gerne hätte sie einen trockenen Wein dazu getrunken. Aber während der Arbeitszeit trank sie keinen Alkohol.
Aus einem Lautsprecher tönte der alte Schlager von Marlene Dietrich „Sag mir, wo die Blumen sind“. Nachdenklich hörte sie die Zeilen:
„Sag, wo die Soldaten sind,
Über Gräbern weht der Wind.
Wann wird man je verstehn?
Wann wird man je verstehn?“
Sie hielt inne und sann darüber nach, dass dieses Lied bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hatte. Es passt sogar zu meinem Thema, überlegte sie, als ihr Handy klingelte. „Bernd“ stand auf dem Display. Bernd Langner war ihr Chefredakteur.
„Hey Bernd!“, rief sie in das Telefon. „Was gibt´s?“
„Bist du noch in Bernburg?“, wollte er wissen.
An seinem Tonfall merkte sie, dass etwas passiert sein musste.
„Ja, wieso?“
„In Halle hat es einen Anschlag auf eine Synagoge gegeben. Vor einer Stunde etwa. Es gab Tote. Fahr hin und sieh zu, was du herausfinden kannst!“
„Ach du Scheiße!“, entfuhr es ihr. „Okay. Bin unterwegs!“
Sie trank einen Schluck Mineralwasser, ging zur Theke und bezahlte.
Eine Dreiviertelstunde später rollte sie auf das Paulusviertel in Halle zu. Alles war weiträumig abgesperrt. Überall standen Streifenwagen mit blitzendem Blaulicht. Schwer bewaffnete Beamte sicherten den Tatort. Die ersten Kamerateams von den Regionalsendern waren auch schon vor Ort.
Leonie stellte ihren Wagen im Halteverbot ab, schnappte sich Handtasche sowie ihr Tablet vom Beifahrersitz und stieg aus. Zunächst bemühte sie sich, einen Überblick zu verschaffen, aber alles wirkte völlig chaotisch. Durch die Barrieren kam sie nicht mehr durch, so viel war klar. Sie versuchte ihr Glück bei einem der Polizeibeamten.
„Guten Tag, mein Name ist Leonie Brahms“, sprach sie ihn lächelnd an und zückte ihren Presseausweis.
Gut aussehende Menschen haben, wenn es um neue Kontakte geht, mehr Erfolg als andere. Leonie sah sehr gut aus, was ihr natürlich bewusst war.
„Tut mir leid, kein Kommentar. Warten Sie bitte die Pressekonferenz ab.“
Er schien von dem Lächeln nicht sonderlich beeindruckt. Enttäuscht sah sie sich um. Von wem konnte sie nur Informationen bekommen? An der Straßenecke stand ein alter Mann. Er trug einen dunkelgrauen Wintermantel, aus dem ein weißer Schal hervorlugte. Unter dem Mantel sah man anthrazitfarbene Hosenbeine und hochglanzpolierte, schwarze Winterschuhe. Sein Haar war schlohweiß. Die tiefen Falten, die sein Gesicht zerfurchten, wiesen darauf hin, dass von seinem Lebensbandmaß bereits der größte Teil abgeschnitten war. Leonie überlegte, ob es Sinn ergeben würde, den Alten zu befragen, sah dann aber, wie sich zwei Männer mit den für Juden typischen, spiralförmig gedrehten Locken unter einem weiten Hut der Absperrung näherten. Und zwar von innen! Sie verwarf den Gedanken an den Greis und schritt mit schnellen Schritten auf die beiden zu. Ob es an ihrem Aussehen lag oder nicht, diesmal bekam sie ihr Interview.
Sie erfuhr, dass gegen Mittag ein bewaffneter Mann versucht habe, sich Zugang zur Synagoge zu verschaffen. Es war Jom Kippur, weshalb die Synagoge bis zum letzten Platz gefüllt war. Sie selbst wären im Inneren gewesen. Plötzlich habe man Detonationen gehört. Kurz darauf Pistolenschüsse. Die ganze Gemeinde habe um ihr Leben gefürchtet. Sie zeichnete alles mit einem Voicerecorder auf, blickte dabei aber immer wieder zu dem alten Mann herüber. Er stand dort noch immer, zwar auf einen Stock gestützt, aber mit kerzengerader Haltung.
Es gelang Ihr, zwei weitere Passanten zu befragen und sich dadurch einen ersten Überblick über die Vorkommnisse zu verschaffen, aber immer wieder sah sie zu dem Greis an der Ecke herüber. Irgendetwas an ihm faszinierte sie. Es war bitterkalt und begann, leicht zu dämmern, doch der Alte stand dort unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung, während alle anderen planlos um ihn herumliefen.
In seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Gefühlsregung, weder eine Spur von Bitterkeit, erst recht keine Freude. Nicht einmal Neugier. Er schien völlig unbeteiligt. Trotzdem glaubte sie, sein ungeheures Einfühlungsvermögen geradezu körperlich zu spüren. Ihre Neugier war geweckt. Sie ging auf ihn zu.
„Guten Tag“, grüßte sie lächelnd, „ich beobachte Sie schon eine ganze Weile.“
„Das ist mir nicht entgangen“, antwortete der Alte zu ihrer Verwunderung, hatte er doch scheinbar reglos auf die Synagoge geschaut.
„Es ist eisig kalt, trotzdem stehen Sie die ganze Zeit wie versteinert hier. Darf ich fragen, was Ihre Beweggründe dafür sind.“
„Ich versuche, etwas zu verstehen“, entgegnete er.
Leonie dachte an das Lied von der Dietrich. „Und was bitte, wenn ich fragen darf?“, fragte sie lächelnd.
Der Alte betrachtete sie eindringlich. Dann nahm seine Miene einen versöhnlichen Zug an. Diese junge Frau erinnerte ihn an jemanden und er fragte sich, warum. War es ihr Aussehen, die langen, roten Haare? Nein, es waren ihre geschmeidigen Bewegungen und, ja, ihr Geruch, der jetzt vom kalten Herbstwind zu ihm getragen wurde. Er sah an ihr vorbei, schien in einer anderen Welt, einer anderen Zeit versunken zu sein. Endlich wandte er sich ihr wieder zu.
„Das wiederum würden Sie vermutlich nicht verstehen“, meinte er mit fester Stimme. „Es sei denn, ich würde Ihnen eine lange Geschichte erzählen. Aber dazu werden Sie wohl kaum die Zeit haben.“
„Sie irren sich!“, rief sie. „Sie scheinen gute Gründe dafür zu haben, in dieser Kälte hier auszuharren, und die würden mich ehrlich interessieren.“
Wieder sah der Mann sie lange an. War sie ernstlich an ihm interessiert oder ging es ihr nur um eine schnelle Story? Aber sie machte einen menschlichen, gefühlsbetonten Eindruck. Wie die Frau damals, auf dem Schiff. Er beschloss, ihr zu vertrauen.
„Es ist aber wirklich eine sehr lange Geschichte.“
„Wollen wir in das Café dort gehen? Da können wir uns aufwärmen und sie erzählen mir alles.“
„Nein, nicht hier und nicht jetzt!“, gab er zu ihrer Überraschung zurück. „Ich habe ihr Autokennzeichen gesehen. Sie kommen aus Berlin, genau wie ich. Wenn Sie tatsächlich an meiner Geschichte interessiert sind, besuchen Sie mich bei mir zu Hause. Ich lebe am Prenzlauer Berg.“ Er gab ihr eine Visitenkarte.
„Wissen Sie?“, fuhr er fort, „das ist eine lange, aber auch sehr intime Geschichte. Doch bevor ich sie ihnen erzähle, möchte ich Sie doch erst etwas besser kennenlernen.“
Drei Tage später parkte Leonie ihren Wagen in der Rykestraße gegenüber der Synagoge. Der Alte wohnte in der ersten Etage eines schmucken Altbaus. Als er ihr die Tür öffnete, strömte ihr ein warmer, behaglicher Duft entgegen. Es roch, als hätte er gebacken.
„Sie sind also tatsächlich gekommen“ begrüßte er sie sichtlich überrascht.
„Hätte nicht damit gerechnet.“
„Trotzdem haben Sie gebacken?“, fragte sie schnuppernd.
„Ich habe es ja gehofft!“ Er lächelte verschmitzt. Spätestens jetzt schloss sie ihn in ihr Herz.
Formvollendet nahm er ihr den Mantel ab und führte sie durch einen langen Flur ins Wohnzimmer. Dicke Teppiche, antike Möbel und Leuchten gaben dem Raum ein imposantes Flair. Dominiert wurde das Zimmer von einem wandübergreifendem, aus dunkelbraunem Holz gefertigten Bücherregal, in dem kein freier Platz mehr war. Auf dem Couchtisch stand eine Teekanne über einem gläsernen Stövchen, daneben ein großer Teller mit selbst gebackenen Bagels. Alles fein säuberlich gedeckt. Der alte Mann schien sich auf ihren Besuch gefreut zu haben, so, als hätte er lange niemanden mehr empfangen. Er hatte sich sogar die Mühe gemacht, zu backen. Leonie fühlte sich auf Anhieb wohl.
Er bat sie, Platz zu nehmen. Es entging ihr nicht, dass er sie dabei genau beobachtete. Er setzte sich ihr gegenüber und es entstand die übliche, etwas peinliche Pause, die es immer gibt, wenn zwei Menschen, die sich nicht kennen, zu einem Gespräch zusammenkommen. Wie um diese Stille zu überbrücken, machte er sich daran, umständlich den Tee einzuschenken.
„Schön haben Sie es hier“, brach Leonie das Schweigen und sah sich demonstrativ noch einmal im Zimmer um.
„Oh ja!“, entgegnete er. „Wir alle leben in unglaublichem Luxus.
„Wie meinen Sie das?“
„Nun ja, sehen Sie, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geht es uns, die hier in der westlichen Hemisphäre beheimatet sind, doch unsagbar gut. Ihre Generation hat sogar noch mehr Glück gehabt. Sie haben noch nicht einmal den Krieg erleiden müssen.“
„Sehe ich genauso!“
„Wenn man das Ganze historisch betrachtet, kann man doch sagen, dass wir in einem Zeitfenster leben, das absolut einzigartig ist. Noch nie haben Menschen so lange in Frieden gelebt. Es gab keine Naturkatastrophen, keine Hungersnöte, wir können unsere Meinung frei äußern, haben Zugang zu allen erdenklichen Informationen und sogar zu Medikamenten. Wenn uns am Sonntag etwas zwickt, ganz in der Nähe findet sich eine Apotheke mit Notdienst, wo wir das passende Mittelchen erwerben können. So etwas hat es noch nie gegeben. Und das ist auch nur bei uns so. Ein paar Hundert Kilometer östlich oder südlich sieht die Welt ganz anders aus.“
„Da habe ich so noch nie drüber nachgedacht!“ Er sah sie an.
„Das ist gewiss das Recht Ihrer Generation, ich finde jedoch, dass es nicht schadet, sich diesen Umstand gelegentlich einmal klarzumachen. Das sollten vor allem die tun, die jeden Tag etwas anderes zu beklagen haben!“
„Wie recht Sie haben. Das mit dem Zeitfenster gefällt mir. Sie haben natürlich ganz andere Zeiten erlebt. Darf ich fragen, wie alt sie sind?“
Sie bewegt sich wie sie, spricht wie sie und riecht sogar etwas nach ihr, ging es ihm durch den Kopf. Fast ein Déjàvu. Ohne dass er es bemerkte, zog ein Lächeln über sein Gesicht.
„Hallo?“, riss sie ihn aus seinen Gedanken.
„Wie? Oh ja, natürlich. Ich war gerade in Gedanken.“
„Das habe ich gemerkt“, gab sie grinsend zurück.
Die Frau begann ihm zu gefallen. Mit ihr würde er auf diese Zeitreise gehen können, das spürte er.
„Sie wollen also meine Geschichte hören?“, erkundigte er sich, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Dann hoffe ich, Sie haben viel Zeit mitgebracht.“
„Ich bin sehr gespannt“, sagte sie, nippte an ihrem Tee und sah ihn erwartungsvoll an.
„Die Geschichte beginnt in Berlin“, hob er mit rauer Stimme an. „Im Jahre 1938. Sie handelt von einem jungen Juden. Nennen wir ihn David.“
Berlin
An den Ufern der Spree blühten die ersten Apfelbäume. Ein leichter Wind ging und kräuselte das von der Frühlingssonne beschienene Wasser. David liebte den Frühling, das zyklische Wiedererwachen der Natur. Diese Jahreszeit symbolisierte Veränderung und Aufbruch. Das passte genau zu seiner Stimmung, denn bald waren die Stadtmeisterschaften der Turner und er gehörte zu den Favoriten auf den Sieg. Berliner Jugendmeister, das hörte sich gut an.
Seine Lieblingsgeräte waren das Reck und die Ringe. Er liebte diese puristischen Equipagen. Eine Eisenstange, zwei Holzringe. Das war alles, was er brauchte, um in kühnen Schwüngen durch die Luft zu wirbeln, und dank der Kraft seiner stattlichen Muskeln die Schwerkraft zu überwinden.
Pfeifend betrat er die Turnhalle und marschierte in Richtung der Umkleiden. Der Geruch von Gummimatten, Schweiß und Reinigungsmitteln strömte ihm vertraut in die Nase. Als er gerade die Türklinke zum Umkleideraum drücken wollte, hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Es war Max Brenner, der Übungsleiter. Sein Gesicht hatte einen merkwürdigen Ausdruck. Aus einem ihm unbekannten Grund bekümmert. David stutze.
„Hallo Max!“, begrüßte er ihn trotzdem gewohnt freundlich. Der verzog das Gesicht.
„Komm mal mit, David“, sagte er mit belegter Stimme. „Ins Büro.“
Irgendwas schien nicht zu stimmen. Schweigend und unsicher folgte er dem Mann in ein kleines, schäbiges Kontor.
„Setz dich lieber hin“, meinte Max und zog einen Stuhl zurück. David nahm Platz und sah den Trainer forschend an.
„Was gibt es denn, Max?“, wollte er wissen. Der setzte sich ihm gegenüber. Eine Weile sagte er nichts.
„Es ist wegen der Meisterschaften“, brachte er schließlich zögerlich hervor.
„Ja?“
„Also“, er druckste herum. „Ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll.“ Dann, nach einer Pause:
„Du darfst nicht teilnehmen!“ Er machte ein bekümmertes Gesicht.
„Was?“, schrie David. „Du willst mich verarschen!“
„Leider nein“, kam es zurück „ich wollte, es wäre so.“
„Und wieso?“
„Weil du ... weil du ...“
„Nun sag schon!“, fuhr David dazwischen.
„Weil du Jude bist!“
Schweigen! David hatte das Gefühl, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Argwöhnisch sah er sein Gegenüber an.
„Das glaube ich nicht!“, murmelte er. Dann sah er das verzweifelte Gesicht des Trainers.
„Weil ich Jude bin?“, wiederholte er gedehnt. „Ich bin einer der besten Turner von Berlin. Ich kann die Meisterschaft gewinnen.“Seine Augen wurden feucht.
„Ich weiß, David“, raunte Max. „Glaube mir, ich habe alles versucht, um deine Teilnahme zu ermöglichen. Aber dieses Geschmeiß von Funktionären bleibt unnachgiebig. Die drehen ihr Fähnchen nach dem Wind. Und der weht aus den Lagern der NSDAP.“
Obwohl es draußen helllichter Tag war, schien es im Raum dunkel zu werden. David sah vis-à-vis nur noch einen Schatten, aus dem Worte sprudelten, die ihn nicht mehr erreichten.
Interesse geweckt? Hier geht´s zum Buch: